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“Prognose”-Tage / Hintergrund

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Aus dem Lexikon: “Prognose: Voraussage, Vorhersage (eines Krankheitsablaufs oder des Wetters) [grch. prognosis „das Vorherwissen”].” So definiert sie Gerhard Wahrig im Deutschen Wörterbuch, Auflage 1975.
Und die „Prognose“ beim WDR kann man in der Tat verstehen als das Bemühen der Senderverantwortlichen, vom Deutschen zum Altgriechischen zurückzukehren und aus einer Voraussage ein „Vorherwissen” zu machen.

Die WDR-„Prognose” ist eigentlich eine senderinterne Angelegenheit, mit der Freie im Grunde nichts, real jedoch eine Menge zu tun haben. Ihre Bedeutung lapidar: Der Sender verpflichtet alle Abteilungen, die Freie beschäftigen, dazu, eine Schätzung abzugeben, in welchem Umfang eine Freie Mitarbeiterin für sie tätig werden wird. Die jeweilige Abteilung muss sich den geschätzten Umfang bei der Abteilung Vertragsmanagement Freie genehmigen lassen.

ClickClickClick – genehmigt, oder abgelehnt

Das läuft computergestützt, sodass niemand mehr etwas von irgendwelchen Anträgen merkt. Wenn eine Abteilung eine „Beschäftigungsprognose“ für eine Freie Mitarbeiterin eingibt, dann geht entweder alles glatt und der Antrag ist angenommen. Oder das System nimmt die Tage nicht an, dann müssen andere Abteilungen zunächst einmal gebunkerte Tage derselben Mitarbeiterin abgeben. Wenn das nicht möglich ist, ist der „Prognoseantrag” abgelehnt und die Mitarbeiterin kann von der betreffenden Abteilung nicht beschäftigt werden. Ebenso, wenn die Mitarbeiterin ihre „Prognosetage” bereits ausgeschöpft hat.

Den früher mal gemachten Unterschied zwischen einer „Einzelprognose” und einer „Dauerprognose” für diejenigen, die von den Abteilungen „Feste Freie” genannt werden, gibt es in dem System nicht mehr. Es gibt aber noch Redaktionen, die – mit und ohne Wissen der Betroffenen – ohne feste Aufträge dem System im Vorhinein die Schätzung eingeben, die Mitarbeiterin werde wohl an 60 Tagen im kommenden Halbjahr für sie tätig sein. Damit ist sie dann für alle anderen blockiert.

Was ist ein Tag? 

Was aber ist ein „Prognosetag”? Es ist nach der WDR-internen Definition ein Beschäftigungstag, an dem für mindestens eine halbe Stunde aufgrund einer vertraglichen Verpflichtung für den WDR gearbeitet wurde. So beschrieb es die zuständige Abteilung im WDR-Intranet jedenfalls 2011. Wer drei „Prognosetage verbraucht“, war also nicht für drei Tage beschäftigt, sondern nur an drei Tagen.

Zuständig sind die Angestellten

Keine Rede ist bei alledem von etwaigen Pflichten Freier Mitarbeiterinnen. Sie müssen ihre Beschäftigungstage zum Beispiel nicht selbst beschränken – kein Wunder, sie genießen schließlich Vertragsfreiheit. Sie dürfen so viele WDR-Verträge abschließen, wie der Sender sich erlaubt: Die „Prognose“ betrifft nur Angestellte.

Diese werden allerdings mit herben arbeitsvertraglichen Konsequenzen bedroht, wenn sie gegen die Dienstanweisung des Intendanten „DA_Prognoseverfahren_1975-01-15 verstoßen. Der damalige Intendant Klaus von Bismarck verordnete in der Anweisung seinen Angestellten disziplinarische Maßnahmen für den Fall, dass sie die „Prognose”-Regeln nicht einhalten: „Bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Verstoß ist die fristlose Kündigung unausweichlich.” Die Dienstanweisung gilt bis heute. (Es steht aber wenigstens auch ein schöner Satz darin: „Freie Mitarbeiter sind nicht zur Ausführung von Nebenarbeiten verpflichtet, die nicht zur Erfüllung der den Gegenstand ihres Honorarvertrages bildenden Aufgabe gehören.” Danke.) Weitere Quelle für die Konsequenzen für Angestellte, wenn sie gegen die “Prognose”-Regeln verstoßen ist ein Rundschreiben des WDR an seine Angestellten aus dem Jahr 1979 : Rundschreiben_Er-_und_Abmahnungsverfahren__Prognoseverstoesse_1979-03-06

Das Rechtsrisiko des WDR

Das Motiv für all die Regeln: Die Freien Mitarbeiterinnen sollen sich nicht auf eine „feste” Stelle „einklagen” können – was juristisch „Feststellungsklage” genannt wird: Es würde vom Arbeitsgericht die Feststellung erwirkt, dass längst schon ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis besteht.

Arbeitszeit ist nur ein Faktor

Unter den vielen Kriterien, die in einem solchen Verfahren geprüft werden, hat sich als Hauptpunkt in der Rechtsprechung allerdings nicht der Umfang der Arbeit für einen Arbeitgeber herausgestellt – auf den die „Prognose“-Beschränkungen abzielen – sondern der „Dienstplan”. Wer also weiterhin relativ autonom bestimmen kann, wann er arbeitet oder auch nicht, der ist weiterhin „frei” – egal wie viel oder wie oft er gearbeitet hat. (BAG Urteil vom 9.6.1993, 5 AZR 123/92)

Deshalb zielt die Dienstanweisung von Intendant Buhrow von 2014 auch mehr darauf ab: Zwingt die Freien nicht zu Anwesenheit, es sei denn es besteht dafür ein sachlicher Grund, der mit der vertraglichen Tätigkeit zusammenhängt.

Zwei Gerichtsurteile zur Illustration

Exemplarisch lässt sich der nur lose Zusammenhang mit den Tätigkeitstagen zeigen an zwei älteren Feststellungsklagen gegen den Südwestrundfunk bzw. seine Vorgänger SDR und SWF.

Der eine Mitarbeiter dackelte täglich zum Hörfunk beim SWF-Studio Mainz, nahm an der Redaktionskonferenz teil und wartete darauf, welche Auftragskrumen von den Tischen der Reichen abfielen. Dass er dies treu – und vor Gericht unbestritten – in einem Jahr an 293 Tagen tat, gereichte ihm nur zum Nachteil, denn: So oft würde ein Angestellter nicht im Sender erscheinen, sagte ein Arbeitsrichter nach Darstellung des Prozessvertreters des Freien. Zum Vergleich: Das offizielle Maximum beim WDR sind 120 Tage pro Jahr. Der SWF-Freie verlor die Klage in letzter Instanz vor dem Bundesarbeitsgericht, weil er – so die Begründung der Richter – zu nichts verpflichtet gewesen sei. Er hätte auch zu Hause bleiben können. Es habe aber dann halt täglich einen neuen Werkvertrag über mindestens einen aktuellen Radiobericht gegeben.6

Zweiter Fall: Fernsehreporterinnen im SDR-Studio Freiburg mussten sich bei ihren Urlaubsplanungen miteinander abstimmen – es entstand also ein Urlaubsplan für die Freien. Das war der entscheidende Punkt, warum sie dann vor dem Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg einen Anspruch auf feste Stellen erstreiten konnten.

Rechtsgrundsätze für Feststellungsklagen

Es würde auch für ein „festes” Arbeitsverhältnis sprechen, wenn der Arbeitgeber die Erteilung neuer Aufträge davon abhängig machte, dass eine Mitarbeiterin ständig arbeitsbereit ist. (BAG, Be­schluss vom 16.06.1998, 5 AZN 154/98)

Es spielt hingegen beispielsweise kaum eine Rolle für den Erfolg einer Feststellungsklage, dass ein Manuskript rechtzeitig zur Sendung fertig sein muss oder der freie Mitarbeiter die Technik des Senders benutzt, (BAG v. 13.5.1992, 5 AZR 434/91 – der Rundfunkreporter war in den Vorjahren im Schnitt an 280 Tagen im Saarländischen Rundfunk gewesen, also öfter als sein Angestellter – aber er war nicht verpflichtet, zu kommen)

oder dass eine Freie Mitarbeiterin nur dann schneiden kann, wenn sie einen Raum dafür disponiert bekommt und auch sonst auf Sendertechnik angewiesen ist (BAG v. 19.1.2000 – 5 AZR 644/98)

und überhaupt, dass sie für ihre Arbeit auf die Technik des Radio- und Fernsehsenders angewiesen ist. (BAG Urteile vom 30.11.1994 – 5 AZR 704/93,  in dem Fall gewann der Freie eine Klage auf Anstellung, weil er weisungsgebunden und in Dienstpläne eingebunden (auch) als Übersetzer und Sprecher arbeitete 19.1.2000 – 5 AZR 644/98)

und zwar auch nicht, wenn die Mitarbeiterin schon seit Jahren für den Sender arbeitet. Und selbst wenn sie für ein einzelnes Projekt komplett in den Betrieb eingegliedert ist, ist das nicht unbedingt relevant. (BAG v. 23.4.1980 – 5 AZR 426/79 )

Funktion der Prognose

Die Beschränkung durch die „Prognose“ mindert das Risiko des Senders also vor allem in einer Hinsicht: Wenn eine Freie schon beim WDR scheinselbstständig arbeiten sollte, dann kann sie sich wenigstens nur auf eine Teilzeitstelle einklagen.

Je programmgestaltender desto unbeschränkter

Je direkter eine Mitarbeiterin das Programm gestalterisch prägt, desto stärker ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13.1.1982  (mit dem elf Verfassungsbeschwerden gegen Arbeitsgerichtsentscheidungen abgeschlossen wurden) das „Abwechslungsbedürfnis” des Rundfunks: Die Sender sollen sie leichter loswerden können – das ist gut für die Rundfunkfreiheit, urteilte (zynisch zusammengefasst) das Bundesverfassungsgericht (BvR 848/77). Es war der WDR, der Verfahren bis zum obersten deutschen Gericht getragen hatte. Mit der Entscheidung wurden die angefochtenen BAG-Entscheidungen aufgehoben und festgestellt, dass die betreffenden freien Mitarbeiter*innen KEINEN Anspruch auf Festanstellung hatten.

Zitat aus der Entscheidung:

“Es ist Sache der Rundfunkanstalten, diesen und ähnlichen Erfordernissen ihres Programmauftrags durch den Einsatz von für die jeweilige Aufgabe qualifizierten Mitarbeitern gerecht zu werden. Dazu wären sie nicht in der Lage, wenn sie ausschließlich auf ständige feste Mitarbeiter angewiesen wären, welche unvermeidlich nicht die ganze Vielfalt der in den Sendungen zu vermittelnden Inhalte wiedergeben und gestalten könnten. Sie müssen daher auf einen breit gestreuten Kreis geeigneter Mitarbeiter zurückgreifen können, was seinerseits voraussetzen kann, daß diese nicht auf Dauer, sondern nur für die Zeit beschäftigt werden, in der sie benötigt werden.” … “Dies schließt die Befugnis ein, bei der Begründung von Mitarbeiterverhältnissen den jeweils geeigneten Vertragstyp zu wählen.”

Aber auch: 
“Im Blick auf den dargelegten Zusammenhang beschränkt sich dieser grundrechtliche Schutz der Bestimmung über das Rundfunkpersonal auf denjenigen Kreis von Rundfunkmitarbeitern, die an Hörfunk- und Fernsehsendungen inhaltlich gestaltend mitwirken.” Bundesverfassungsgericht (BvR 848/77)

Letzteres führt beim WDR zu eine höheren Anzahl an „Prognosetagen” für inhaltlich gestaltende Freie. Beim mehr in Richtung Technik tätigen Personal hingegen gibt es kein Abwechslungsbedürfnis, so die Logik. Deswegen hält sie der Sender an der kurzen Leine, gewährt ihnen also weniger Beschäftigungstage.

(In dem einen oder anderen Punkt könnten die Informationen auf dieser Seite fortgeschrieben werden und mit neuerer Rechtssprechung aktualisiert werden. Die Grundaussagen bleiben aber weitestgehend richtig)

Fundstellensammlung:

  1. Zu Beginn der “Klagewelle”

BAG, 08.10.1975 – 5 AZR 430/74

Amtlicher Leitsatz:

Für die Frage, ob ein als “freier Mitarbeiter” bei einer Rundfunkanstalt eingestellter Redakteur und Reporter in einem Arbeitsverhältnis zu der Anstalt steht, kommt es entscheidend auch darauf an, ob die Anstalt über die Abwicklung des einzelnen Auftrages hinaus über Arbeitszeit und Arbeitskraft des Reporters wie ein Arbeitgeber verfügt, oder ob sie ihm in der praktischen Handhabung der Vertragsbeziehung die für einen freien Mitarbeiter typische Entscheidungsfreiheit bei der Verwertung der Arbeitskraft überläßt.

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