Geschichte der “Prognose”
Dieser Abschnitt stand in der ersten Auflage dieses Buches (2002), er passte aber nicht mehr in die zweite hinein (2012). Jetzt kommt er wieder rein, in die dritte Auflage, denn online ist wieder Platz.
Die Vorgeschichte der Prognose ist weiterhin wichtig. Denn allzu viele Legenden ranken um die Verantwortung für die Beschäftigungsbeschränkungen für freie Mitarbeiterinnen beim WDR.
Die Henne und das Ei
Beschäftigungsbeschränkungen müssen sein, sagen die WDR-Chefinnen, damit nie wieder Freie Mitarbeiterinnen sich auf eine Stelle einklagen können wie Mitte der 70er Jahre geschehen. Hätte es diese „Klagewelle” nicht gegeben, gäbe es heute kein „Prognosesystem.“
Fiele die „Prognose“ weg, argumentieren dagegen die Freien, ginge es ihnen so gut, dass niemand sich einklagen wollte. Und überhaupt: Eingeklagt hätten sich die Freien nur, weil Beschäftigungsbeschränkungen drohten.
Was war also zuerst da, die „Prognose“ oder die Klagewelle, die Henne oder das Ei?
Ein eigener Arbeitsplatz im Sender
Anfang der 70er Jahre beschäftigten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Freie Mitarbeiterinnen so ziemlich genau wie Angestellte. Allerdings wie Angestellte ohne jede soziale Sicherung – ohne Kündigungsschutz und Altersversorgung, ohne Lohnfortzahlung und ohne Krankenversicherung. Um ihre soziale Absicherung mussten sich die Freien selbst kümmern; eine Künstlersozialkasse gab es nicht, und der WDR führte keine Sozialversicherung für sie ab.
Die Redaktion „Monitor” etwa bestand aus einem einzigen Redakteur – die anderen Redakteurinnen waren Freie, mit eigenem Schreibtisch im Sender.1 = Fußnoten siehe unten
Für das Regionalmagazin „hier und heute” waren täglich lauter freie Kameraleute unterwegs, kaum jedoch Angestellte.
Die Freien waren täglich eingeplant. So konnten sie im Jahre 1971 sogar einmal einen Tag lang streiken, um eine Erhöhung des Kilometergeldes (25 Pfennig) für ihre Fahrten zum Drehort zu erreichen.2 Der vermutlich erste Streik in der WDR-Geschichte war also ein Streik von Freien Mitarbeiterinnen. Die Zeitungen fürchteten damals angesichts der Streikdrohung um die Basis der Berichterstattung aus NRW.
Nicht ohne meinen Schreibtisch
Die Rechtsprechung der Gerichte wandelte sich Anfang der 70er Jahre allmählich. Zuerst musste der WDR rückwirkend einige hunderttausend Mark an gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträgen (und zwar Arbeitgeber- wie Arbeitnehmeranteil) für Mitarbeiterinnen nachzahlen, die als Freiberuflerinnen behandelt, aber wie Angestellte beschäftigt worden waren. Damit weiteten die Sozialgerichte die Regeln für unständig Beschäftigte,3 die ursprünglich für Tagelöhnerinnen in Häfen geschaffen worden waren, auf Freie Rundfunkmitarbeiterinnen aus.
Die Sender wehrten sich dagegen. Der spätere WDR-Intendant Friedrich-Wilhelm von Sell schrieb dazu, es gehe gar nicht „um die materiellen Kosten und Lasten, die eine Sozialversicherungspflicht auslöst, sondern vielmehr in erster Linie um ein Stück Rundfunkfreiheit”4 Er fürchtete arbeitsrechtliche Konsequenzen. Später dann gab es in der Tat erfolgreiche Feststellungsklagen auf Arbeitsplätze.
Nervöse Chefs – und mehr Soziales
Bei den Senderverantwortlichen wuchs die Nervosität. Deshalb versuchten sie einerseits die soziale Lage der Freien zu verbessern, indem sie die Pensionskasse der Rundfunkanstalten (heute Pensionskasse Rundfunk genannt)5 gründeten und indem sie sich gemeinsam mit den Gewerkschaften für die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage stark machten, auf der für arbeitnehmerähnliche Freie6 Tarifverträge abgeschlossen werden konnten (das führte zum Paragrafen 12 a des Tarifvertragsgesetzes7). Dahinter stand und steht bis heute die Hoffnung, dass sich keine auf eine feste Stelle einklagen muss, die auch als Freie gut versorgt ist – vor allem aber auch die Erwartung, dass Gerichte eine solche Klage gut versorgter Freier Mitarbeiterinnen bitteschön abweisen sollen. Soweit zum Zuckerbrot.
Nervöse Chefs – und mehr Drohungen
Die Peitsche wurde allerdings auch geschwungen: In einer viel beachteten Rede sagte der ZDF-Programmdirektor Gerhard Prager 1970, Freie Mitarbeiterinnen seien zwar wichtig für die Berichterstattung. Ebenso wichtig sei aber, dass die Freien ab und zu ausgetauscht werden könnten. Ein „Stamm von Freien“ habe sich ja schon seit Jahren festgesetzt, was eine flexible Berichterstattung behindere.
Dies ist ein Argumentationsstrang, der sich bis heute durch Arbeitsgerichtsprozesse zieht, die die ARD führt: Das Prinzip „Heuern und Feuern” sei gut für die Rundfunkfreiheit, sagen Richter und Senderjuristen. Halt, nein, sie drücken es anders aus: „Der WDR soll die notwendige Flexibilität behalten, Mitarbeiterinnen befristet für einzelne Programmvorhaben zu beschäftigen, aber auch aus Programmgründen auf die Beschäftigung verzichten zu können.”8
… und “Festanstellungsklagen”
Die Freien Mitarbeiterinnen wurden damit ebenfalls nervös. Drei von ihnen gewannen Arbeitsgerichtsprozesse auf eine Anstellung, eine vierte Klage war Ende 1972 anhängig.9
… und Konflikte
Im WDR sorgte 1973 dann eine Dienstanweisung des Intendanten Klaus von Bismarck für große Aufregung. Die Arbeitsplätze für Freie im Sender müssten weg, stand darin unter anderem.10 Der Konflikt war da. Man wollte den Freien ihre Schreibtische wegnehmen, und darunter verstanden diese, man wolle ihnen ihre Arbeitsplätze wegnehmen.11 Auf einer Protestversammlung mit rund 300 Freien wurde dagegen gewettert: Ja wie, bitteschön, sollten sie denn das Programm planen, wenn sie keinen Schreibtisch im Sender hatten?12 Und mit dieser Frage hatten sie Recht, denn sie arbeiteten ja längst schon wie Angestellte.
Die Klagewelle
Als die Dienstanweisung nicht zurückgenommen wurde, klagten einige hundert Freie gegen den Sender auf Anstellung, mit Unterstützung der Gewerkschaft RFFU13. Der NDR hatte mittlerweile 172 neue Planstellen geschaffen14 – aber der WDR entschied, sich gegen eine solche Lösung zu stemmen. Erst als die Freien vor Gericht reihenweise recht bekamen – in der gesamten ARD waren rund 450 von 550 Klagefällen erfolgreich – lenkte der WDR ein, stellte rund 400 ehemalige Freie Mitarbeiterinnen ein – und erließ andererseits die Beschäftigungsbeschränkungen der „Prognose“.15 Die allermeisten allerdings mussten gar nicht mehr vor das Arbeitsgericht ziehen, denn der WDR bot ihnen eine Stelle an.
Reaktion: Die “Prognose”
Die Vertreter der Freien und der RFFU protestierten damals zwar gegen die „Prognose“; der Protest hielt sich aber in Grenzen. Denn es gab ja nicht mehr viele, wegen deren Interessen protestiert werden müsste. Die Beschäftigungsbeschränkung betraf die „alten” Freien Mitarbeiterinnen nicht mehr, denn sie hatten jetzt entweder als Redakteure, Technikerinnen und Kameraleute einen festen Arbeitsplatz, oder sie durften einigermaßen unlimitiert weiterarbeiten, wenn sie freiwillig auf eine Stelle verzichteten, die ihnen eigentlich zustand.16 Wer mag, kann in der WDR-Bibliothek in den Jahrgängen 1974/75 der Betriebszeitschrift „Fünkchen” die damals ständig vorhandene Rubrik „Übernahme aus Freier Mitarbeit” studieren und nach prominenten Namen suchen.
Die neue Generation der Freien bekam dann sowohl die Segnungen als auch Härten der Entwicklung zu spüren: mit neu abgeschlossenen Tarifverträgen, aber auch mit der „Prognose“ – zwei Seiten der selben Medaille.
Der WDR focht seine verlorenen zwölf „Einklagungs”-Prozesse bis zur letzten Instanz, dem Bundesverfassungsgericht, durch. Erst das oberste deutsche Gericht gab 1982 dem WDR Recht und stellte fest, die Rundfunkfreiheit bedeute für die Sender: „Sie müssen daher auf einen breit gestreuten Kreis geeigneter Mitarbeiter zurückgreifen können, was seinerseits voraussetzen kann, dass diese nicht auf Dauer, sondern nur für die Zeit beschäftigt werden, in der sie benötigt werden.”17
Das müssten die Arbeitsrichter bei programmgestaltenden Mitarbeiterinnen berücksichtigen. Immerhin sah der WDR sich nach dem Ende der Prozesse in der Lage, die Beschäftigungsgrenzen für „programmgestaltende Mitarbeiter” zu erhöhen, von damals drei bis sechs Tagen auf die dann lange geltenden durchschnittlichen acht Tage pro Monat.
Eigentlich aber war meines Erachtens die strikte Form der Prognose mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil unnötig geworden. Denn nun konnten sich die Sender bei programmgestaltenden Mitarbeitern immer auf ihr Abwechslungsbedürfnis berufen, und selbst Menschen, die als Freie 280 oder 290 Tage im Jahr in ihren Rundfunk zur Arbeit gingen, bekamen vor dem Arbeitsgericht keine feste Stelle zugesprochen, wenn sie nicht in Dienstpläne eingeteilt oder weisungsgebunden waren. Dazu mehr hier.
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Fußnoten
11 Bonner Generalanzeiger, 24. März 1973, Interview mit „Herrn Gördinger”, Mitglied der Gewerkschaft RFFU
15 Anweisung des Intendanten über die Beschäftigung Freier Mitarbeiter vom 15.1.1975 DA_Prognoseverfahren_1975-01-15
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